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Neuanfang mit „Scheißdörfern“

Mit Seßlach kam 1972 eine lange Stadtgeschichte, aber keine Wirtschaftskraft, zu Coburg. Das hat den damaligen Landrat derart aufgeregt, dass man heute noch über einen Satz aus vertraulicher Sitzung spricht.

Neuanfang mit „Scheißdörfern“

(K)ein Mann aus einem „Scheißdorf": Hendrik Dressel, ehemaliger Bürgermeister, ist stolz auf das, was der Landkreis Coburg 1972 dazubekommen hat: Die Stadt Seßlach. FOTO: BERTHOLD KÖHLER

21.10.2022

Natürlich war Hendrik Dressel nicht dabei, als über die Seßlacher die Aussage getroffen wurde, die ihnen in der Kommunalpolitik heute noch ab und an gerne aufs Brot geschmiert wird. Dafür ist der ehemalige Bürgermeister, Jahrgang 1953, zu jung. Aber er weiß aus „authentischen Erzählungen“, sagt Dressel, dass es Anfang der 1970er-Jahre eine nichtöffentliche Sitzung im Coburger Gustav-Dietrich-Haus gegeben hat, bei der Dr. Klaus Groebe (SPD) als amtierender Landrat seine Meinung über Seßlach als neuen Teil des Landkreises Coburg rausrutschte: „Ich brauche diese Scheißdörfer nicht!“

Scheißdörfer, also so was! Diesen Begriff haben die politischen Gegner von Klaus Groebe damals zügig aus der Vertraulichkeit an die Öffentlichkeit durchsickern lassen. Da muss Hendrik Dressel auch 50 Jahre später und nicht zum ersten Mal die Sache klarstellen: „Dass wir damals die ärmsten Schlucker waren – okay. Aber wir waren doch keine Scheißdörfer!“ Wobei: So ganz unverständlich sei Groebes Gemoser über den Neuzuschnitt des Landkreises ja auch nicht gewesen, zeigt sich Hendrik Dressel inzwischen leicht verständnisvoll. Mit Creidlitz und Scheuerfeld als Beispiele habe der Landkreis schließlich wirtschaftliche starke Gemeinden an die Stadt abgeben müssen, neu hinzu kamen eben die Seßlacher und die vor 1972 noch eigenständige Gemeinde Witzmannsberg. Das war’s. Klar, dass da der amtierende Landrat gerne ein bisschen mehr Wirtschaftskraft im Landkreis gehabt hätte. Aber die hatte die Stadt Seßlach ganz und gar nicht. Zwar eine lange Stadt-Geschichte, aber dafür eine selbst für 70er-Jahre-Verhältnisse alles andere als gute Infrastruktur.

In Seßlach vielleicht, in Gemünda auf jeden Fall, sahen sie die den Landkreis-Wechsel anders. „Die Coburger wollten uns zwar nicht haben. Aber wir wollten nach Coburg“, erinnert sich Hendrik Dressel, dem sich durch den anstehenden Wechsel der Landkreis-Zugehörigkeit die Möglichkeit ergab, nach Coburg auf die Mittelschule zu wechseln. Ein bisschen stolz ist er darauf, zum Gründerjahrgang der CO-II-Realschule zu gehören. Und froh.

Denn Staffelstein (damals noch ohne „Bad“) hätte für einen 17-Jährigen aus Gemünda bedeutet: 6 Uhr früh mit dem Bus zur Schule, irgendwann abends erst wieder daheim. Als 1972 die Gebietsreform vollzogen wurde, war Hendrik Dressel dann „erst mal weg vom Fenster“: Da ging es für ihn an der LandwirtschaftsSchule in Triesdorf weiter.

Die Generation seiner Eltern habe seit jeher nicht viel nach Staffelstein geschaut. Das war kein Wunder, schließlich gingen die persönlichen Verbindungen dorthin, wo Arbeitsplätze zur Verfügung standen. Das war aus Sicht der Seßlacher in erster Linie in Weitramsdorf mit seiner damals starken Polstermöbel-Industrie – und in Weiterführung der Fahrtstrecke dann Coburg.

An Widerstände in Politik und Bevölkerung bei der Auflösung des Landkreises Staffelstein kann sich Hendrik Dressel deshalb nicht erinnern: „Wir haben dem nicht nachgetrauert.“ Dass es im Seßlacher Stadtgebiet aber noch einige Fahrzeuge mit STE-Kennzeichen für Staffelstein gibt, sieht der ehemalige Langzeit-Bürgermeister (1984 bis 2014) eher als ein Zeichen des Pragmatismus statt der Revolution. Zumal sich die „Coburger Ecke“ im Staffelsteiner Landkreis als anerkannt fühlen durfte. Der stellvertretende Landrat dort kam ganz oft aus dem Itzgrund oder dem heutigen Seßlacher Stadtgebiet.

Zwölf Jahre nach der Landkreis-Gebietsreform ist Hendrik Dressel, vermutlich wohl selbst für ihn überraschend, Seßlacher Bürgermeister geworden. Ein paar Nachwehen hatte die Stadt aus dem Wechsel in den Landkreis Coburg noch abzuarbeiten. Das Altenheim in der Altstadt, betrieben von der Flenderschen Spitalstiftung, war so ein Fall. Dieses wurde früher über den Landkreis Staffelstein betrieben und fiel nach dessen Auflösung ins Bodenlose. „Der Landkreis Coburg hat eindeutig klargemacht, dass er kein Altenheim mehr betreiben wird“, erinnert sich Hendrik Dressel. „Aus der Not heraus“ habe die Stadt damals die Führung der Stiftung übernommen – einen Haufen Verantwortung und enorme finanzielle Belastungen in der Folgezeit gleich mit. Sie unterstützt das Seniorenheim heute noch.

Und dann gab es noch diesen einen Moment. Den, bei dem sich die Lebensweisheit bewahrheitet hat, dass man sich im Leben immer zweimal trifft. „Sensationell und bis heute noch unvergleichlich schön“, erinnert sich Hendrik Dressel, haben die Seßlacher 1985 die 650 Jahre zurückliegende Ernennung zur Stadt gefeiert. Ellenlang war die Liste der Ehrengäste zum Festakt. Bewusst nicht mit dabei, obwohl damals noch recht rüstig und im kommunalen Geschehen präsent: Dr. Klaus Groebe. Hendrik Dressel erinnert sich noch gut an die Formulierung des Altlandrats im Beschwerdebrief zu seiner Nichtberücksichtigung: „Er fand das ausdrücklich nicht in Ordnung, dass er nicht eingeladen wurde.“ Hätte er mal lieber 15 Jahre vorher nicht so böse über die Seßlacher gesprochen… Berthold Köhler

Geschichte

Landkreis Staffelstein: Er existierte von 1939 bis 1972 in einer Ausdehnung von Autenhausen bis nach Rattelsdorf mit insgesamt knapp über 20 000 Einwohnern. Aufgeteilt wurden die Gemeinden des Landkreises an die Nachbarlandkreise Ebern, Lichtenfels und Bamberg. Und natürlich nach Coburg – und zwar mit der Stadt Seßlach sowie Autenhausen, Dietersdorf, Gemünda, Gleismuthhausen, Gleußen, Hattersdorf, Herreth, Kaltenbrunn i. Itzgrund, Lahm, Lechenroth, Merlach, Neundorf, Oberelldorf, Rothenberg, Schottenstein, Unterelldorf, Welsberg und Witzmannsberg.